Zukunftsanalyse

Ich Entwicklung Synchronize Consult

Was nach der Leistungsgesellschaft kommt

Bedingungsloses Grundeinkommen und wahre Gleichstellung: Deutschland könnte auf der Schwelle zu einem neuen Zusammenleben stehen. Warum, erklärt ein entwicklungspsychologisches Konzept.

Ein Essay auf Spiegel Online von Stefan Schultz, im Gespräch mit Dr. Thomas Binder, Geschäftsführender Partner der Synchronize-Consult GmbH

Stellen Sie sich vor, Sie würden in einer Welt leben, in der Sie sich frei entwickeln können. In einer Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung einen höheren Stellenwert hat als Produktivität. In der Sie weniger arbeiten und dafür Ihren Sehnsüchten nachgehen. Und in der Ihre Mitmenschen Sie nicht nur tolerieren, sondern annehmen, wie Sie sind – mit Ihrem Lebenskonzept, Ihrer Hautfarbe, Ihrer sexuellen Orientierung.
Es ist möglich, dass wir die Anfänge eines solchen Zeitalters gerade erleben. Denn es gibt Anzeichen, dass sich unsere Gesellschaft fundamental weiterentwickelt. Genauer gesagt: dass sich viele Menschen fundamental weiterentwickeln. Viele Psychologen glauben, dass in der gezielten Entwicklung des Ichs, dieser geheimnisvollen, uns allen innewohnenden Instanz, der Schlüssel zu einer offeneren Gesellschaft liegt.

Jane Loevinger, eine inzwischen verstorbene US-Entwicklungspsychologin der Washington Universität, hat ihr halbes Leben damit verbracht, eine Theorie zur Vermessung des Ichs zu erarbeiten. Sie führte Tests mit Tausenden Menschen durch und arbeitete heraus, dass ihr Denken, Fühlen und Handeln sich im Laufe des Lebens auf ähnliche Art entwickelte. Jedes Ich folgt demnach einer festen Reihenfolge von Entwicklungsstufen, und es wird dabei immer differenzierter und komplexer.

Die Theorie der Ich-Entwicklung wird von manchen Forschern abgelehnt. Kritiker stören sich daran, die komplexe menschliche Natur in ein starres Schema zu pressen. Es ist aber mittlerweile Konsens, dass Loevingers Theorie zumindest eine gute Orientierung gibt, was mit unserer Persönlichkeit im Laufe unseres Lebens passiert. Und dass sich dadurch vieles erklären lässt, was ansonsten nur schwer zu verstehen ist; die Entstehung unserer Leistungsgesellschaft, der zeitgleiche Aufstieg der Grünen und der AfD. Doch dazu später mehr.

Die heutige Forschung zur Ich-Entwicklung unterscheidet zehn bislang messbare Stufen , wobei sich kein Mensch komplett nur auf einer Stufe befindet. Oft verteilt sich unsere Entwicklung auf vier oder mehr Stufen, auf einer davon aber hat das Ich seinen Schwerpunkt.

Ebenso verhält es sich mit unserer Gesellschaft. Auch hier befinden sich die meisten Menschen auf einer bestimmten Stufe. Folgt man Loevingers Konzept, dann stehen uns fundamentale Veränderungen bevor. Denn die Verteilung scheint sich immer mehr auf spätere Stufen zu verlagern.

Seit den Sechzigerjahren wurden umfassende Erhebungen dazu durchgeführt, welche Ich-Stufen in Nordamerika sowie in West- und Mitteleuropa am stärksten verbreitet sind. Man kann heute in etwa von folgender Verteilung ausgehen:
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